Jemand und Niemand
Es war einmal Jemand, denn man nannte ihn Jemand, weil er weder einer, noch keiner war.
Und weil er war, dachte er auch. Doch was dachte er? Wichtiger war es, was Jemand nicht dachte. Jemand wusste nämlich nicht, dass er blind war und er wusste auch nicht, was er nicht sah. Denn er konnte nichts sehen. Ob er wirklich blind war oder einfach die Augen nicht öffnen wollte, wussten selbst die gelehrtesten Ärzte nicht. Er verstand nicht einmal die Frage: „Bist du blind?“ Denn Jemand wusste ja nicht, was Sehen war.
Und so schritt er weiter in die Welt, ohne zu sehen, ohne das zu sehen, was ich sah.
Einmal begegnete ich Niemandem. Ich nenne ihn Niemand, da ich ihn nun hoffentlich aus meinem sinnvollen Leben gestrichen habe.
Niemand hat gesehen. Gesehen, was ich sah. Naiv, wie ich war, dachte ich, Jeder wäre wie Niemand. Ich wusste natürlich, dass Niemand etwas besonderes war. Doch habe ich den Wert in seiner Fähigkeit, mit seinen Augen und auch mit den meinen zu sehen, nicht genug beachtet.
Und so trennten sich die Wege von Niemandem und mir.
Ich begegnete Jemandem. Freundlich und nett, jedoch blind war er. Und wovon ich ihm auch erzählte, Sonnenschein, Menschsein, Todeswunsch, Gottheitstrumpf, Leidensweg, Endessteg; er sah es nicht. Denn er war blind.
Und auch ich schloss meine Augen. Denn die Möglichkeit, Jemand könnte mich doch noch verstehen, hören, selber sehen und mir mein Sehen selbst verändern, machte mich selbst blind.
Und wenn ich blinzele, dann sehe ich nicht Niemanden, sondern Jemand.
Und bisher ist kein Wunder geschehen, was einen Blinden sehend macht.

Ein Stück Leben, 6. März 2012